Das Pflegekind kam mit seiner Katze

Das Pflegekind kam mit seiner Katze

Sechs Jahre lang lebte Anna* bei einer Grossfamilie auf dem Bauernhof. Um besser gefördert zu werden, zog die Achtjährige zur dreiköpfigen Familie Hauser*. Dort lebt jetzt nicht nur die Pflegetochter, sondern auch ihr Büsi.

Auf der Quartierstrasse vor dem Einfamilienhaus der Familie Hauser im Limmattal wird gerade die Strasse saniert. «Kommt herein», bittet Pflegemutter Monika Hauser die Gäste ins Haus. Im Inneren zieren Kinderzeichnungen und verschiedene Schilder mit Sprüchen die Wände, im Wohnzimmer liegt eine Katze in einem flauschigen Korb und schläft. «Das ist Elena, die Katze von Anna», sagt sie.

Seit Ende Dezember lebt die Achtjährige bei ihr, ihrem Mann Bruno und ihrem Sohn Leon. «Es war Annas Bedingung, dass sie ihre Katze mitnehmen darf», sagt die bald 50-Jährige. Weil Annas Mutter ihr (noch) keine geregelte Tagesstruktur geben kann, lebte Anna sechs Jahre lang in einer Grossfamilie auf einem Bauernhof. Um besser gefördert zu werden, wechselte sie auf Wunsch ihres Beistands die Pflegefamilie.

Zum ersten Mal ein Pflegekind aufgenommen

Anna ist das erste Pflegekind, das Familie Hauser bei sich aufgenommen hat. Den Stein ins Rollen gebracht hat eine Kollegin, die bei Familynetwork arbeitet und für Familienplatzierungen zuständig ist. «Sie fragte vor vier Jahren, ob das nicht auch etwas für uns wäre.» Seither befasst sich das Ehepaar mit dem Thema, besuchte Kurse und sprach viel mit ihrem Sohn darüber. Denn für die Familienfrau, die einen Tag pro Woche im kaufmännischen Bereich arbeitet, ist klar: Alle drei müssen dahinterstehen. Nach reiflicher Überlegung tun sie das: «Wir haben räumlich, zeitlich und auch emotional Raum für ein Pflegekind.»

Nach dem grundsätzlichen Entscheid wurde die Familie mehrere Male von Familynetwork angefragt, ein Kind aufzunehmen. Einmal für ein Geschwisterpaar mit einem Mädchen im Rollstuhl. Das war aufgrund der Treppen im Haus nicht möglich. Ein andermal für einen Jungen, der dann aber eine Familie im gleichen Dorf fand. «Ich musste lernen, nein zu sagen, wenn es nicht passt, und nicht aus Mitleid zuzusagen. Es war für mich eine lehrreiche Zeit.»

Wegen Annas «Bagage» die Kugelibahn weggeräumt

Bei Anna und Familie Hauser hat die Chemie von Anfang an gestimmt. Vor dem Umzug kam sie einige Male zu Besuch und verbrachte auch die Ferien mit ihnen. Leon und Anna spielten stundenlang miteinander. Als Anna dann Ende Dezember zu ihnen zog, freute sich Leon riesig. «Ich fand es mega cool. Der einzige Nachteil war, dass ich meine Kugelibahn wegräumen musste, weil Anna so viel Bagage mitbrachte», sagt Leon, der soeben von der Schule heimgekehrt ist. Der Mittelstufenschüler packt am Esstisch seinen Wochenplan aus und beginnt, seine Hausaufgaben zu machen. Er schaut von seiner Deutschübung auf und sagt mit Blick ins Wohnzimmer: «Jetzt habe ich hier eine Kugelibahn aufgestellt.»

Mittlerweile ist auch Anna von der Schule heimgekommen, setzt sich zu Leon an den Tisch und isst einen Zvieri. Als Leon in die Stube geht, um zu demonstrieren, wie die Kugeln über die Bahnen rollen, gesellt sich nicht nur Anna zu ihm, sondern auch Katze Elena. Die Kinderstimmen haben sie aufgeweckt. Sie lässt sich kurz von Anna streicheln und beginnt dann, mit der Kugel zu spielen. «Das macht sie immer. Und sie legt sich auch immer auf unsere Spielsachen», sagt Leon. Als Beweis zeigt Mutter Monika etliche Katzenfotos auf Spielsachen.

Der Drei-Personen-Haushalt wurde lauter und lebendiger

Für sie ist der Familienzuwachs besonders stark spürbar. «Die Interaktion mit einem zusätzlichen Kind ist nicht eine Verdoppelung, sondern eine Vervierfachung», sagt sie und fügt an, dass der Drei-Personen-Haushalt früher weniger laut und einfacher gewesen sei. «Ich habe damals nichts vermisst und trotzdem ist es jetzt gut, es ist lebendiger und durch meine Freundinnen, die mehrere Kinder haben, wusste ich, was abgeht mit mehreren Kindern.» Auch Leon findet es nach mehr als einem halben Jahr noch immer gut, sein Einzelkind-Dasein aufgegeben zu haben. «Aber manchmal möchte ich auch meine Ruhe haben», sagt er und Anna fügt an: «Dann langweile ich mich und bastle halt etwas.» Sagt es, steht auf und holt einen Karton hervor, den sie mit kleinen farbigen Wolltieren beklebt hat. «Ich habe noch mehr», sagt sie und zeigt im Obergeschoss die Zeichnungen und Basteleien, die ihr Zimmer dekorieren. Neben etlichen Fotos, die sie mit ihrer leiblichen Mutter zeigen.

Ziel ist die Rückplatzierung zur Mutter

«Anna hat zum Glück eine sehr gute Beziehung zu ihrem Mami», sagt ihre Pflegemutter. Jedes zweite, dritte Wochenende verbringt sie bei der leiblichen Mutter, deren Ziel eine Rückplatzierung sei. Sie bemühe sich deshalb, die Auflagen zu erfüllen, und pflege auch mit den Pflegeeltern einen guten Kontakt, sagt Monika Hauser. Wann und ob es so weit kommen wird, ist indes unklar. Wie gehen sie als Pflegefamilie damit um? «Es war uns von Anfang an bewusst, dass es möglich ist, dass Anna wieder geht. Das soll eigentlich ja auch das Ziel sein.» Sie versuche, ihr in der verbleibenden Zeit so viel Normalität wie möglich zu bieten, Zeit für sie zu haben, sie beim Lernen zu unterstützen oder mit ihr etwas zu unternehmen. «Das, was ich auch meinem Sohn biete. Damit Anna gut vorbereitet ist, wenn sie geht», sagt Monika Hauser.

Mühe mit dem Gedanken, Anna wieder loszulassen, habe sie deshalb nicht. «Wie es dann ist, wenn es so weit ist, weiss ich natürlich nicht», sagt sie. Auch nicht, ob sie dann ein weiteres Pflegekind aufnehmen wollen. Ihr sei bewusst, dass sie mit Anna ein «einfaches» Pflegekind bekommen haben. «Sie ist ein unkompliziertes, gutes und lustiges Kind und wir müssen sie nicht mit Samthandschuhen anfassen, sondern können sie so erziehen wie unseren eigenen Sohn.» Sie seien offen und wollen sich dann über weitere Pflegekinder Gedanken machen, wenn es so weit sei. Der nächste Termin in der Familienagenda ist hingegen gesetzt: Annas Geburtstag. Eine Katze, wie vor zwei Jahren, als Elena zu Anna zog, wird es dieses Jahr nicht sein. Über das Geschenk von Pflegebruder Leon wird sie sich aber wohl auch freuen: ein Ausflug ins Alpamare, wie er verrät, als Anna für einen kurzen Moment nicht zuhört.

Dieser Artikel ist in gekürzter Form in der Limmatwelle, ein Produkt der chmedia im September 2020 erschienen.

*Namen geändert

Text: Melanie Bär, Journalistin BR | Zeichnungen: Tabitha Zurbrügg