Ein umgebautes Schulhaus voller Kinder

Ein umgebautes Schulhaus voller Kinder

Ein offenes Haus für Kinder, das war der Wunsch von Silvia und Manuel Benz* als junges Ehepaar. Heute leben sie mit ihren vier Söhnen und fünf Pflegekindern in einem umgebauten alten Schulhaus.

Ein Motorrad, vier Autos, sechs Kickboards und ein Dutzend Velos. Vor dem Haus der Familie Benz* steht eine ganze Sammlung von Fahrzeugen. Schnell wird klar: Hier wohnt eine Grossfamilie. Und tatsächlich, der sechsjährige Max* braucht alle Finger, um seine Mitbewohner aufzuzählen. Er ist der Jüngste von allen, gefolgt von der neunjährigen Lena*, die bei der Begrüssung gleich klarstellt: «Wir sind die Pflegekinder.»

Sie lebt seit drei Jahren bei Familie Benz, zusammen mit ihrer zwölfjährigen Schwester, die an diesem Tag einen Ausflug mit der Mutter macht. Auch Max kam vor einem Jahr nicht alleine, sondern mit seinem älteren Bruder André* zur Familie. Die vier Pflegekinder leben zusammen mit den vier Söhnen von Silvia und Manuel Benz in einem alten Schulhaus, das Vater Manuel während dreier Jahre in ein 13-Zimmer-Haus umgebaut hat. Umgeben von Wald und Wiese liegt es abseits des Dorfes in einer idyllisch ländlichen Gegend im Kanton Bern.

Voller Stolz erzählt Max, dass er den Nachmittag auf einem Bauernhof verbracht hat. «Ich durfte reiten und frische Milch trinken.» Der weisse Rand um seine Lippen ist der Beweis. Darauf angesprochen, lacht er und führt die Besucherinnen ins Haus zu seiner Gastmutter. Er schaut auf den schweren Rucksack der Gäste und fragt, ob sie ein Geschenk für ihn mitgebracht haben.

Geburtstagsfeier mit den leiblichen Eltern

Vor zwei Tagen hat er seinen sechsten Geburtstag gefeiert. Zusammen mit seinem Bruder, der vor vier Tagen elf wurde. Am Wochenende war das grosse Haus deshalb voller Gäste: Die leiblichen Eltern, Halbgeschwister, Grosseltern und Götti waren zu Besuch und haben mit Familie Benz und den anderen Pflegkindern die Geburtstage ihrer beiden Jungs gefeiert.

Plötzlich verschwindet Max und seine Gastmutter Silvia sagt: «Wenn man solche Geburtstagsfeste zusammen mit der Ursprungsfamilie hier bei uns feiern kann, dann zeigt das, dass man ein gutes Verhältnis aufgebaut hat. Das ist sehr hilfreich», sagt die 44-Jährige. Hilfreich vor allem für die Kinder, fügt sie an. «Denn sie spüren, wenn keine grosse Distanz zwischen den leiblichen Eltern und den Pflegeeltern herrscht.»

Normal ist das keineswegs. Vielfach würden Pflegeeltern von den leiblichen Eltern als Konkurrenz wahrgenommen. Deshalb übernehmen bei Familynetwork normalerweise sogenannte Familienbegleiter den Kontakt zu Vater, Mutter und Behörden und vermitteln als neutrale Stelle zwischen ihnen. Nicht bei Familie Benz. Silvia hat sich als Sozialpädagogin ausbilden lassen, damit sie die Fallführung selber übernehmen kann und im Kontakt zu Eltern, Beiständen und Behörden steht. Einmal im Monat besucht ein Coach von Familynetwork die Familie, um Silvia bei Bedarf zu unterstützen. Mit einer Ausnahme habe sie als sogenannte «Fachfamilie» gute Erfahrungen gemacht. Nur einmal hat ein Kind Familie Benz frühzeitig verlassen, wegen Differenzen mit der leiblichen Mutter und dem Beistand.

Immer etwas los

Vor 15 Jahren zogen die ersten Pflegekinder bei Silvia und Manuel ein. Gesamthaft wohnten 11 Kinder bei ihnen. Meistens waren sie beim Einzug im Kindergartenalter. Drei Kinder konnten wieder zu ihrer Familie zurück, eines ging in ein Time-out und ein anderes wechselte die Pflegefamilie, ein Jugendlicher zog aus, als er volljährig wurde, und ein ehemaliges Pflegekind wohnt auch mit 21 Jahren noch bei ihnen. Ebenso wie die vier aktuellen Pflegekinder.

«Es war immer etwas los», sagt der 18-jährige Sohn von Silvia und Manuel. Sein 16-jähriger Bruder doppelt nach: «Es war nie langweilig.» Manchmal sei jedoch die eigene Familienzeit etwas zu kurz gekommen. «Und wenn ich abends müde heimkomme, dann ist es mir manchmal etwas zu viel», sagt der Ältere. Mutter Silvia weiss das: «Wir hatten sehr wenig Familienzeit für uns. Das ist der Preis, den wir als Familie bezahlen.» Ihr sei bewusst, dass ihre Kinder diesen Weg ungefragt mitgehen mussten. «Auch wenn sie es im Grundsatz mittragen, so war es doch unser Wunsch und nicht ihrer.»

«Am liebsten hätte ich, wenn wir alle zusammen hier wohnen könnten.»

Vater Manuel sieht es ähnlich. Doch er ist überzeugt, dass auch seine eigenen Söhne davon profitieren können. «Sie lernten, zu investieren, sich hinzugeben und auch mal ein Opfer zu bringen.» Sein grösster Lohn sei, zu sehen, wie sich die Kinder im Positiven verändern. «Ich habe gerne Kinder und investiere gerne in sie.»

Mittlerweile ist Max zurückgekommen. Er trägt einen Rucksack am Rücken und sagt stolz: «Das war mein erstes Geburtstagsgeschenk. Ich habe es von Silvia bekommen.» Sagts, zieht den Rucksack aus und öffnet ihn. Darin befindet sich ein Säcklein mit gedörrten Mangos und Aprikosen. Er bietet den Gästen grosszügig von den Früchten an. Als Pflegeschwester Lena auch zulangen will, zieht er den Sack zurück. «Du hast selber welche», sagt er, überlegt es sich dann aber anders und gibt ihr trotzdem einen Mangoschnitz. Sie bedankt sich und isst ihn genüsslich.

Auf die Frage, wo sie lieber sei, bei ihrer Mutter oder der Pflegefamilie, weiss sie nicht recht, was sie antworten soll. Erst nach einer Weile sagt sie: «Am liebsten hätte ich, wenn wir alle zusammen hier wohnen könnten.» Das sei ein häufiger Wunsch, sagt Silvia später. Und sie hätten sich auch schon überlegt, in der im Haus integrierten 1,5-Zimmer-Wohnung einen Mutter-Kind-Platz anzubieten. Weil Lenas Mutter jedoch psychische Probleme hat und selber Hilfe braucht, wäre das in ihrem Fall nicht möglich.

Mitgefühl gegen das sich-fremd-fühlen

«Vielleicht irgendwann mal. Für eine junge Mutter und ihr Baby. Im Moment aber wollen wir weiterhin ein offenes Haus für Kinder haben», sagt die gelernte Gärtnerin. Denn das sei ihre Berufung, die sie und ihr Mann als junges Paar gespürt hatten. Und auch jetzt, nach 15 Jahren, stehen sie noch immer mit viel Herzblut dahinter. Das hilft ihr auch über die schwierigen Momente hinweg. Denn auch die gibt es. Etwa, wenn Lena weint, wenn ihre Mutter geht. Oder als André die Koffer packte, weil er sich am Anfang nicht wohlfühlte im neuen Zuhause. Wegen Konflikten zwischen den Eltern können er und Max nicht mehr bei den leiblichen Eltern wohnen. «Das ist eine schwierige Situation, ich fühle mit ihm.» Manchmal helfe dieses Mitgefühl schon, dass sich die Kinder nicht mehr ganz so fremd fühlen würden.

Trotz solcher schwierigen Situationen hat sie noch nie ans Aufgeben gedacht. Auch nicht, als das eine Pflegekind, das mit seiner Schwester als Vollwaise bei ihnen aufwuchs, bei seiner Volljährigkeit die Koffer packte und auszog. «Das tat schon weh. Er und seine Schwester kamen als Kleinkinder zu uns und wuchsen mit unseren Söhnen auf. Sie waren wie eigene Kinder.» Weil ihre Eltern nicht mehr leben, boten sie dem Geschwisterpaar an, auch nach Erreichen der Volljährigkeit und Ende des Pflegeverhältnisses bei ihnen leben zu können. Während die 20-Jährige das Angebot annahm und noch bei Familie Benz wohnt, ist ihr Bruder mit 18 Jahren gegangen und hat sich nie mehr gemeldet. Silvia hat das akzeptiert, musste es akzeptieren. Im Wissen, dass solche Kinder einen Rucksack zu tragen haben und ihre Identitätssuche oftmals schwieriger ist als bei Kindern, die bei ihren leiblichen Eltern aufwachsen. «Wir säen und es wird irgendwann aufgehen. Egal, ob sie mit 18 davonlaufen oder nicht», ist Manuel Benz überzeugt.

Wenig Zeit für sich selber

Deshalb will er auch künftig seine Kraft und Energie in die Pflegekinder investieren. Zwar macht daheim seine Frau momentan die Hauptarbeit, doch der gelernte Landmaschinenmechaniker reduziert seine Arbeit, wann immer es möglich ist, um so oft es geht zu Hause bei den Kindern zu sein und die Arbeit mitzutragen. «Denn auch wenn Silvia es angestossen hat, Pflegekinder aufzunehmen, so war es trotzdem ein Wunsch von uns beiden und ich habe es sofort unterstützt», sagt der 47-Jährige.

Im Moment erhält die Familie Unterstützung einer Haushaltshilfe. Das ermöglicht Silvia, am Mittwochmorgen turnen zu gehen, mal alleine einen Spaziergang im Wald zu machen oder sich alle paar Wochen mal mit ihren Freundinnen zu treffen. «Ich bin mir bewusst, dass meine persönliche Zeit und auch die mit meinem Mann ein bisschen zu kurz kommen im Moment. Das wird sich hoffentlich bald ändern.»

Weil ihr die Kinder am Herzen liegen, ist für sie aber klar: Auch wenn die eigenen Söhne mal nicht mehr zu Hause wohnen, werden sie und ihr Mann ein Haus voller Kinder haben.

Mit Charme im Hier und Jetzt

Ein Glück für Max, Lena und ihre Geschwister. Auch wenn nicht klar ist, ob sie wieder zu ihrer leiblichen Mutter oder dem leiblichen Vater zurückgehen können, so haben sie bei Familie Benz zumindest einen vorübergehenden Platz auf sicher. So sicher, wie er als Pflegekind eben sein kann. Doch darüber macht sich Max in seinem kindlichen Alter sowieso noch keine Gedanken. Er lebt im Hier und Jetzt und verabschiedet sich mit einem Strahlen im Gesicht von der Illustratorin und der Journalistin, deren Herzen er mit seinem Charme und seiner kindlichen Art bereits gewonnen hat. Erst recht, als er der Schreiberin beim Tschüss-Sagen eine Papierblume in die Hände drückt und der Zeichnerin ein Haarband übergibt und sagt: «Ein Geschenk für dich, damit du deine Haare zusammenbinden kannst.»

*Namen geändert

Text: Melanie Bär, Journalistin BR | Zeichnungen: Tabitha Zurbrügg