Nicht ohne Mila ans Meer

Nicht ohne Mila ans Meer

Für Tim, Lionel und Lara ist Mila wie eine Schwester*. Sie wurde als Neugeborene bei Familie Staufer* platziert. Wie lange sie bleibt, ist ungewiss.

Es ist der erste Schulferientag. Ausschlafen konnten Marc und Tabea Staufer trotzdem nicht. «Mila hat um halb sieben Tagwache gemacht», sagt Tabea und lacht. Vier Stunden später ist auch der zwölfjährige Tim munter und streicht sich Nutella aufs Gipfeli, das er vorher im Dorf geholt hat. «Weil Ferien sind», kommentiert seine Mutter mit Blick aufs Morgenessen.

Die dreijährige Mila und die fünf Jahre ältere Lara haben längst gefrühstückt und rennen ins Obergeschoss. Mila freut sich, dass ihre drei Geschwister nun fünf Wochen lang nicht zur Schule gehen müssen und viel Zeit mit ihr zusammen verbringen.

Ihre Pflegegeschwister, um genau zu sein. Mila lebt zwar, seit sie sieben Tage alt ist, bei Familie Staufer, ist aber nicht verwandt mit ihnen. Familynetwork hat notfallmässig einen Platz in einer Familie für sie gesucht, weil ihre eigene Mutter nicht für sie sorgen kann. Sie war bei der Geburt selber noch minderjährig und wurde nach dem Wochenbett mit Mila in einem Mutter-Kind-Haus untergebracht. Am selben Tag verschwand sie wieder – und liess ihre Tochter zurück.

Zweieinhalb Stunden Bedenkzeit

Das war im Oktober 2015. Marc und Tabea Staufer hatten sich in diesem Jahr entschieden, ein bis zwei Pflegeplätze anzubieten. Dass dann so schnell ein Kind bei ihnen einzieht, damit haben Staufers nicht gerechnet. Es war an einem Samstag, als um zehn Uhr morgens eine Mitarbeiterin von Familynetwork bei Familie Staufer anrief und fragte, ob sie bereit wären, ein Neugeborenes auf unbestimmte Zeit aufzunehmen. Marc war gerade an einer Feuerwehrübung und Tabea bedang sich zweieinhalb Stunden Bedenkzeit aus, damit sie den Entscheid noch mit ihrem Mann besprechen konnte, der am Mittag heimkam. «Wir wussten nicht viel über die Hintergründe und auch nicht, ob das Kind zwei Wochen, zwei Monate oder gar Jahre bei uns bleiben wird», erinnert sich die 44-jährige Mutter. Doch für das Ehepaar und die drei Kinder war nach dem kurzen Austausch beim Mittagessen klar: Wir nehmen das Baby auf. «Wir hatten alle ein gutes Gefühl», sagt Marc rückblickend.

«Wir haben uns alle in Mila verliebt»

Und das, obwohl der 41-Jährige kein Gehör hatte, als seine Frau zwei Jahre zuvor den Wunsch äusserte, einen Pflegeplatz anzubieten. «Für mich war klar, entweder wollen wir das beide oder wir machen es nicht. Nach Marcs ablehnender Haltung war das Thema für mich erledigt», so Tabea. Umso erstaunter sei sie gewesen, als Marc ihren Wunsch zwei Jahre später wieder aufgriff und offen dafür war.

Zusammen mit einem Begleiter von Familynetwork fuhr die dreifache Mutter an diesem Samstagnachmittag in das Eltern-Kind-Haus, um Mila abzuholen. «Es war komisch: Du gehst an einen fremden Ort und nimmst von fremden Leuten ein Kind mit.» In ihrem Eigenheim im Kanton Bern angekommen, schliefen die eigenen Kinder bereits. «Als sie Mila am Morgen sahen, haben sie sich alle gleich in sie verliebt.»

Tim ist der Einzige der drei Kinder, der sich noch an diesen Moment zurückerinnert. «Sie lag im Maxi-Cosi und ich habe mich gefreut, dass wir nun zwei Buben und zwei Mädchen sind», sagt er, als er kurz vor dem Mittag wieder in der Stube des Eck-Einfamilienhauses auftaucht. Mittlerweile ist auch sein zehnjähriger Bruder Lionel zu Hause eingetrudelt. Er hat die erste Feriennacht an einer Übernachtungsparty bei einer Schulkollegin verbracht.

Rückkehr ungewiss

«Lionel hat die engste Beziehung zu Mila», sagt sein Vater. Mutter Tabea ergänzt: «Das war von Anfang an so. Er hatte auch am meisten Fragen.» Lionel wollte wissen, warum Mila nicht bei seiner Mutter leben kann und ob sie irgendwann wieder zu ihr zurückkehren werde.

Diese Fragen konnten und können seine Eltern nicht beantworten. Denn sie leben selber in der Ungewissheit, wie lange Mila bei ihnen leben wird. «Wenn man Pflegeeltern wird, ist man sich bewusst, dass man sich auf diese Ungewissheit einlässt. Und trotzdem wäre es für unsere ganze Familie mega schlimm, wenn sie wieder gehen müsste», sagt die 44-Jährige und schaut nachdenklich nach draussen. Marc fügt an: «Ich hatte am Anfang Respekt davor, sie nicht so gern zu haben wie die eigenen Kinder. Deshalb zögerte ich, ein Pflegekind aufnehmen. Doch es ist überhaupt nicht so. Vom Herz her ist sie wie ein eigenes Kind.»

Und auch die vier Kinder haben es noch immer gut zusammen. «Mit den üblichen Geschwisterstreitereien, die dazugehören», fügen die Eltern lachend an. Lara und Mila beweisen es gleich selber: Nach einer Stunde Spielzeit im Zimmer kommen sie mit vier Wassergläsern in die Stube zurück: «Ein Cappuccino für euch», sagen sie und stellen die Becher auf den Stubentisch. Dann wechseln sie den Schauplatz. Mila setzt sich auf Mistral, ein kniehohes Pferd aus Plüsch, das ihr Tim und Lionel mit dem eigenen Sackgeld gekauft und geschenkt haben. Fürs Foto setzt sich die Dreijährige drauf und beginnt laut zu reklamieren, als ihr nicht passt, wo es steht.

Besondere Bindung zur leiblichen Mutter

«Sie hat einen starken Willen», kommentiert ihre Pflegemutter und fügt an, dass ihr das vermutlich im späteren Leben noch zunutze komme. Dann, wenn sie nicht mehr wie heute allen stolz erzählt, dass sie ein Pflegekind ist, sondern hinterfragen werde. Tabea pflegt den Kontakt zu Milas Mutter und ermutigt sie, Mila regelmässig zu besuchen und eine Beziehung zu ihr aufzubauen.

Das fällt ihr nicht schwer. Die gelernte medizinische Praxisassistentin und Sozialpädagogin hat ein paar Jahre in einem Haus für Mütter und Kinder gearbeitet. Sie hat erlebt: Für ein Kind ist die leibliche Mutter immer etwas Besonderes und die Bindung zwischen ihnen ist einmalig. «Es ist das Beste, wenn ein Kind bei den leiblichen Eltern aufwachsen kann. Es tat weh zu merken, dass Milas Mutter es nicht schaffte.»

Aufgrund des unsteten Lebens hat die Mutter die Besuche immer wieder kurzfristig abgesagt. «Mila ist dann immer sehr enttäuscht. Sie spürt, dass ihre Mutter für sie eine besondere Person ist, kann es aber nicht richtig einordnen.» Es ist mehr als ein halbes Jahr her, seit Mila sie zum letzten Mal gesehen hat. Das geplante Standortgespräch, an dem sie erstmals auch Marc hätte treffen sollen, hat sie wieder kurzfristig abgesagt.

Nicht ohne Mila

Das seien schwierige Momente, sagen die Staufers. Denn als Pflegeeltern sind sie auf den Goodwill der leiblichen Mutter angewiesen, die nicht bekannt gibt, wer Milas Vater ist. Weil ihr nicht das Sorgerecht, sondern nur die Obhut von Mila entzogen wurde, sind Staufers in vielerlei Hinsicht von ihr abhängig. «Mila darf zum Beispiel kein Schweinefleisch essen, weil die leibliche Mutter das nicht will.» Das habe bei Mila auch schon einen Tobsuchtsanfall ausgelöst, weil sie nicht versteht, warum sie als Einzige in der Familie darauf verzichten muss. Auswirkungen auf die ganze Familie hat auch, dass die leibliche Mutter das Einholen eines Reisepasses immer wieder hinauszögert. Ohne dieses Papier kann die Familie mit Mila nicht ins Ausland reisen. «Wir würden gerne einmal mit den Kindern ans Meer fahren, aber ohne Mila können wir uns das im Moment einfach nicht vorstellen», sagt Marc. Ohne sie sei die Familie nicht komplett, sagt er und fügt an: «Sie hat die lustigsten Sprüche auf Lager und bringt damit alle zum Lachen.»

Auch wenn die Familie deswegen hin und wieder konsterniert ist, Verständnis kann Tabea für Milas Mutter trotzdem aufbringen: «Sie packt es nicht, weil sie die Möglichkeiten dafür nicht hat.» Deshalb setzt sich Familie Staufer dafür ein, dass es zumindest bei Mila einmal anders sein wird und sie einmal ein selbstständiges Leben führen kann. Dafür nehmen sie in Kauf, auf die Ferien am Meer und aufs Ausschlafen zu verzichten, und fahren in diesen Sommerferien erneut in die Berge.

*Namen geändert

Text & Bilder: Melanie Bär, Journalistin BR