Von einem Tag auf den anderen kann er nun machen, was er will

Von einem Tag auf den anderen kann er nun machen, was er will

Als das Ehepaar Schönbächler* vor 15 Jahren ein Einfamilienhaus bauen liess, war klar: Es muss gross sein. Schliesslich soll es nicht nur den eigenen vier Kindern je ein Zimmer bieten, sondern auch Gästen. Diese kamen dann ohne ihr Zutun, blieben dauerhaft und wurden Teil der Familie: die Pflegekinder Judith* und Jonas*.

Mittlerweile ist Jonas 19. Mit der Volljährigkeit endete auch das Pflegeverhältnis. Doch auch wenn seine Pflegeeltern seit seiner Volljährigkeit keine finanzielle Entschädigung mehr erhalten, ist für sie klar: So wie die eigenen Kinder darf auch Jonas so lange bei ihnen wohnen bleiben, wie er möchte. Und wie Schönbächlers leibliche Kinder muss auch er nur eine an sein Einkommen angepasste kleine Miete zahlen, solange er noch in Ausbildung ist. Und das ist Jonas wohl noch länger: Er besucht das vierte Lehrjahr als Elektroinstallateur, will danach die Berufsmaturität nachholen und später vielleicht Architektur studieren. «Deshalb habe ich nicht gross vor, in nächster Zeit daheim auszuziehen», sagt er.

Judith ist fünf Jahre jünger, besucht die achte Klasse. Schon deshalb ist ausziehen für sie kein Thema. Sie denkt auch nicht daran, weil Schönbächlers für sie zur Familie geworden sind. «Auch wenn sie mich manchmal nerven, so sind sie doch meine Familie», sagt sie lachend und wird von Pflegemutter Erika an sich gedrückt.

Aus Monaten wurden Jahre

Für diese gute Beziehung hat die 54-Jährige viel investiert, sagt sie später. «Der Einstieg war wirklich heftig, Judith nahm die ersten Jahre sehr viel Raum ein.» Das war vor neun Jahren. Damals fragte eine Mitarbeiterin von Familynetwork, ob Schönbächlers bereit wären, ein sechsjähriges Mädchen für eine drei- bis sechsmonatige Notfallplatzierung aufzunehmen. Zu dieser Zeit war Jonas nach einem neunmonatigen Aufenthalt bei Schönbächlers gerade wieder zu seiner Mutter zurückgekehrt. Das Ehepaar sprach sich mit den eigenen vier Kindern ab und sagte zu.

Aus den drei bis sechs Monaten sind neun Jahre geworden. Mittlerweile ist klar, dass Judith nie mehr zurückkehren wird: Ihr Vater sei mit der Situation überfordert, die damals suchtkranke Mutter ist vor fünf Jahren verstorben. Erika Schönbächler musste Judith die Todesnachricht überbringen: «Der Tod war schlimm, aber er gab auch Klarheit im Leben von Judith.» Wie bei vielen Pflegekindern gab auch Judiths Mutter ihre Tochter aufgrund der Suchterkrankung unfreiwillig weg und sah die Pflegeeltern am Anfang als Konkurrenz. «Wir waren sehr froh, dass in diesen Konfliktsituationen die Familienbegleiterin mit der Mutter kommunizierte.»

Wie ein Kollege, den man Daheim hat

Ganz anders war die Situation bei Jonas. Er wuchs im gleichen Dorf auf, in dem Schönbächlers wohnen. Als er in der zweiten Klasse war, suchte seine Mutter aufgrund einer psychischen Erkrankung eine Tagesfamilie für ihn. Ihre Anfrage landete via Tageselternverein bei Erika Schönbächler. Seither geht Jonas im Haus ein und aus. «Er ist wie ein Kollege, den man daheim hat», sagt Tim, der ein Jahr jüngere Sohn von Schönbächlers.

Anders als die anderen Tageskinder, die zu dieser Zeit bei Schönbächlers betreut wurden, blieb Jonas auch mal über Nacht. Als seine Mutter hospitalisiert wurde, sogar mehrere Monate. «Wir waren die Ausweichmöglichkeit, wenn seine Mutter nicht für ihn sorgen konnte.» Als die Belastbarkeit der Mutter abnahm und die Klinikaufenthalte zunahmen, zog er vor fünf Jahren schliesslich ganz bei Schönbächlers ein. Mit seiner Mutter ist Jonas heute vor allem telefonisch in Kontakt. Sein Vater lebte jahrelang in einem Pflegeheim und verstarb vor ein paar Jahren.

Kein Loyalitätskonflikt mit Mutter

«Bei Jonas lief die Platzierung recht harmonisch, er hatte auch nie einen Loyalitätskonflikt seiner Mutter gegenüber», sagt Daniel Schönbächler. «Vielleicht weil sie uns ausgesucht hat und Jonas die Erlaubnis gab, sich bei uns wohl zu fühlen», ergänzt seine Frau.

Und trotzdem: Als das Ehepaar vom Sozialdienst vor fünf Jahren angefragt wurde, Pflegeeltern von Jonas zu werden, haben sie nur unter der Bedingung eingewilligt, dass Familynetwork die Familienbegleitung übernimmt und ebenfalls als Ansprechperson für Behörden amtet. Denn ohne diese Zwischenstelle werde man unweigerlich in die Probleme der Eltern verwickelt, sagen Schönbächlers.

«Als die Mutter den Behörden die Tür einmal nicht öffnete, bat mich die Polizei, zu vermitteln», erzählt Erika Schönbächler. Ein anderes Mal hätte sie den Besuchsplan mit ihr aushandeln müssen. «Das alles hat mich gestresst, denn ich bin fürs Kind da und nicht dafür, irgendwelche Sanktionen mit den Eltern durchzusetzen.»

Mit der Volljährigkeit das abrupte Ende

Mit Jonas’ Volljährigkeit liegt die Verantwortung nun bei ihm selbst. Während er und auch Schönbächlers vorher viele behördliche Vorgaben erfüllen und Ziele sowie Fortschritte laufend dokumentieren mussten, endete das alles mit dem 18. Geburtstag abrupt.

«Von einem Tag auf den anderen kann er nun machen, was er will, und es fragt niemand mehr nach», sagt die Pflegemutter und fügt an: «Das fand ich krass.» Ihnen ist bewusst, dass er die Familie als Rückhalt weiterhin braucht, zumal er ja auch finanziell noch nicht auf eigenen Beinen steht. «Ohne unsere Unterstützung müsste Jonas aufs Sozialamt gehen und käme gleich wieder in die Institutionsschiene rein.»

Kein Unterschied zu Pflegekindern

Doch für Schönbächlers ist klar: Jonas behandeln sie weiterhin gleich wie die eigenen Kinder – auch wenn er nun volljährig ist. Und auch im 10 ½-Zimmer-Haus hat es weiterhin Platz für ihn. «Ich mache auch gefühlsmässig keinen Unterschied und fühle mich für alle sechs Kinder ihrem Alter entsprechend verantwortlich», sagt der 51-jährige Daniel Schönbächler. Ein bisschen anders empfindet es seine Frau: «Ich glaube, dass die Verbindung zwischen leiblichen Eltern und Kindern anders ist, man kann sie nicht in eine andere Bindung übertragen. Etwas ist anders, nicht schlechter und auch nicht wertend, aber trotzdem anders.»

*Namen geändert
Text: Melanie Bär, Journalistin BR | Zeichnungen: Tabitha Zurbrügg