Trotz Weggang eine Erfolgsgeschichte

Trotz Weggang eine Erfolgsgeschichte

Die zwei Pflegekinder der Familie Lüscher* mussten aufgrund ihres Verhaltens in ein Heim wechseln. Für Lüschers ist es trotzdem eine Erfolgsgeschichte. Eine mit Hochs und Tiefs.

Silvia Lüscher kommt just auf den Interviewtermin vom Arbeiten heim, begrüsst ihren Mann Simon und setzt sich aufs Sofa in der frisch renovierten Wohnstube in ihrem Eigenheim im ersten Stock. Simon Lüscher ist im für diese Gegend typischen Haus im Kanton Aargau aufgewachsen. Mittlerweile ist der angebaute Stall, den sein Vater hobbymässig betrieb, abgerissen und durch einen Hausanbau ergänzt worden. Seine Mutter wohnt im Erdgeschoss, die Schwester mit ihrer Familie im Anbau. Einzelne Übrigbleibsel, wie etwa der Brunnen hinter dem Eingang, deuten noch auf den Ursprungsbau hin.

Ein Teil hat Simon Lüscher in seiner Freizeit selbst umgebaut. Für ihn ein schöner Ausgleich zu seinem kopflastigen Beruf als Pfarrer. Und etwas, was ihn mit seinem Pflegesohn Afrim verbunden hat. Zu seinem leiblichen Vater hatte Afrim kaum Kontakt. Er starb, als er ein Teenager war. «Wir haben stundenlang zusammen renoviert», sagt der 50-Jährige und fügt an, dass sich dabei auch viele gute Gespräche von Mann zu Mann ergeben haben. «Ich glaube, man kann schon sagen, dass eine Art Vater-Sohn-Beziehung entstand, auch wenn ich nicht sein leiblicher Vater bin und er als Teenager wieder auszog.»

Schlechte Impulskontrolle, tiefe Frusttolzeranz

Nicht ganz freiwillig. Weder für die Pflegefamilie noch für Afrim. «Es gab viel Krach und wir konnten ihm nicht mehr das Zuhause bieten, in dem er sich positiv weiterentwickeln konnte. Deshalb entschied die Familienbegleiterin die Trennung», sagt Silvia Lüscher. Afrim hatte als Kind Mühe, seine Impulse zu kontrollieren, und eine sehr tiefe Frusttoleranz. Er fiel in der Schule immer wieder negativ auf. Nicht nur auswärts, sondern auch daheim verhielt sich Afrim auffällig. «Durch ihn lernte ich, noch konsequenter zu sein», sagt Silvia Lüscher. Die engen Leitplanken verursachten in der Familie auch Konflikte.

Mittlerweile hat auch Lea, die 24-jährige leibliche Tochter von Silvia und Simon Lüscher, auf dem Sofa im Wohnzimmer Platz genommen. «Es war daheim oft harmonischer, wenn mein Pflegebruder nicht zu Hause war.» Neben diesen negativen Auffälligkeiten habe Afrim aber auch eine zugängliche, humorvolle und sympathische Art. «Und beim Handwerken blühte er richtig auf», sagt Simon Lüscher.

Trotz Herausforderungen ins Herz geschlossen

Mit viereinhalb Jahren kam Afrim mit wenig Alltagsstruktur zu Lüschers. Zuvor hatte er bei seiner Mutter gelebt, die psychische Schwierigkeiten und Suchtprobleme hatte. «Afrim war noch ein kleiner Junge und ich habe ihn wirklich ins Herz geschlossen», sagt Silvia Lüscher. An diese Zeit denkt sie gerne zurück. «Trotz der Herausforderungen erlebten wir viele schöne Momente: den Kindern beim gemeinsamen Spielen zuschauen oder bräteln im Wald erfüllten mein Leben mit Dankbarkeit.»

Als Afrim elf Jahre später die Familie verliess und in ein Heim für Kinder mit besonderen Bedürfnissen zog, sei es der Familie sehr schwergefallen. «Es hat sich als Scheitern angefühlt – wir wollten doch immer nur das Beste für Afrim», sagt Silvia Lüscher, fügt jedoch an: «Wir sahen es auch als Chance, dass die Beziehung nicht ganz zerbricht.» Und tatsächlich: Jetzt, knapp sieben Jahre später, melde sich Afrim immer mal wieder und sage: «Es war gut für mich, dass ich bei Lüschers aufwachsen konnte.»

Stellt man da als Pflegefamilie nicht infrage, ob sich der Einsatz gelohnt hat? «Ich nicht. Nicht vorzustellen, wie Afrim geworden wäre, wenn er nie erlebt hätte, wie es in einer ‹normalen› Familie ist», so Lea. Auch wenn sie den Einsatz ihrer Eltern deshalb «verantwortungsvoll» findet – sie selbst möchte später keine Pflegekinder aufnehmen. Ganz anders ihre 26-jährige Schwester: «Sie sagt, dass sie unbedingt auch mal Pflegekinder möchte.»

Prägende erste Jahre

«Die Erfahrungen mit Afrim haben mir gezeigt, wie wichtig und prägend die ersten Lebensjahre für Kinder sind», resümiert Silvia Lüscher. Trotz der Erfahrungen mit Afrim hat sich das Ehepaar nochmals entschieden, ein kleines Kind bei sich aufzunehmen. Als Afrim fünf Jahre bei Lüschers wohnte, zog seine Halbschwester Esther bei der Familie ein.

Esther kam als Dreieinhalbjährige zur Familie, zuvor hatte sie im Kinderheim gelebt. Im Gegensatz zu Afrim war sie dadurch eine Tagesstruktur gewohnt. Allerdings hatte Esther häufig wechselnde Bezugspersonen und war deshalb nicht gewohnt, dass immer dieselbe Person für sie da ist. «Am Anfang hat sie immer wieder gefragt, wann ich heimgehe, wo ich wohne oder wo ich hingehe, wenn ich krank bin», sagt Silvia Lüscher. Als sie sah, dass sich Silvia und Simon Lüscher das Ehebett teilten, sei sie richtig schockiert gewesen. «Sie hat nur den Heimalltag gekannt, wo die Angestellten nach der Arbeit wieder gehen.»

Beziehung als Herausforderung

Die frühkindliche Erfahrung von Esther hatte Auswirkungen im Familienalltag. «Zu viel Nähe ertrug Esther nicht. Wenn es harmonisch und friedlich war, machte sie Radau, um sich abzugrenzen.» Doch nicht nur: Esthers hat auch eine fröhliche Art und mit ihrem Humor für lustige Momente in der Familie gesorgt. Doch auch sie verliess die Familie wieder, anderthalb Jahre nach Afrim. Sie zog mit elfeinhalb Jahren in ein Internat. Anfangs verbrachte sie die Wochenenden bei der Pflegefamilie, später bei der leiblichen Mutter.

Mit der leiblichen Mutter der Kinder waren Lüschers während all der Jahre regelmässig in gutem Kontakt. «Man kann Pflegekindern kein grösseres Geschenk machen, als gut mit den leiblichen Eltern auszukommen, um einen Loyalitätskonflikt zu verhindern», so Silvia Lüscher. Auch Esther hatte im Heim Probleme. So sehr, dass sie von der Leitung gefragt wurde, warum sie im Internat bleiben wolle. Die Antwort von Esther: «Weil ich muss. Ich habe ja keinen anderen Ort, wo ich hinkann.» Daraufhin habe Silvia Lüscher gefragt, was sie denn nach der Schulzeit tun möchte, wenn sie frei wählen könnte. «Zu euch zurückkommen», Esthers Antwort.

Nochmals eine Chance

Nach vielen Gesprächen haben dem Wunsch alle Verantwortlichen zugestimmt. Obwohl Afrim, der mittlerweile seinen Weg gefunden hat, eine Lehre in einem Produktionsbetrieb macht und wieder bei seiner Mutter lebt und auch ihr leiblicher Sohn dem Vorhaben eher kritisch gegenübersteht. Sie fragen sich, ob sich Esthers Verhalten geändert hat, und vermuten, dass es innerhalb der Familie wieder zu Problemen kommt. «Wir wollen es trotzdem versuchen und ihr nochmals eine Chance geben», entschied das Ehepaar. Allerdings mit Auflagen: Esther besucht das zehnte Schuljahr, lebt nur während der Woche bei Lüschers und verbringt die Wochenenden weiterhin bei der Mutter. Inzwischen sind alle Beteiligten zuversichtlich, dass die Platzierung mit dieser Aufteilung klappen kann.

Trotz vielen Hindernissen: Das Ehepaar zieht positive Bilanz und sieht das Erlebte als Erfolgsgeschichte. «Das, was Afrim und Esther bei uns erlebt haben, kann ihnen niemand nehmen.» Als ausgebildete Kleinkinderzieherin und Sozialpädagogin konnte die 48-Jährige zudem viel Erfahrung sammeln. Das praktische Wissen hilft ihr bei ihrer Arbeit als Familienbegleiterin bei Familynetwork. «Wenn ich Familien besuche, die Unterstützung im Umgang mit ihren Kindern brauchen, und sage, dass ich drei eigene Kinder und zwei Pflegekinder grossgezogen habe, dann ist das eine Art Legitimation, sie beraten zu dürfen.»

Lieber schwierige Jugendliche als fremde Gäste

Sagt es und steht vom Sofa auf. Im Hintergrund sind Klavierklänge zu hören. Tochter Lea, die am Konservatorium Musik studiert, ist gerade am Üben. Bald hat auch sie die Ausbildung als Letzte der eigenen Kinder abgeschlossen. Gut möglich, dass sich das grosse Haus in den nächsten Jahren langsam leert. Können sich Lüschers vorstellen, dann nochmals Pflegekinder aufzunehmen? Silvia Lüscher sieht zu ihrem Mann. Der sagt: «Wir werden sicher immer ein offenes Haus haben. Ich könnte mir auch vorstellen, ein Bed and Breakfast zu eröffnen.» «Nie im Leben», winkt seine Frau ab, «alle zwei Tage Leute, die ich nicht kenne. Nein danke, dann lieber noch zwei herausfordernde Jugendliche, aber immerhin sind es dann immer die gleichen.»

*Namen geändert

Text: Melanie Bär, Journalistin BR | Zeichnungen: Tabitha Zurbrügg